„Nahrung ist ein menschliches Grundrecht!“

Caritas-Mitarbeiter Michael Zündel aus Götzis ist beruflich oft im Süden Äthiopiens unterwegs, um dort die Hungerhilfe der Caritas Vorarlberg zu koordinieren. Im Interview erzählt er über Herausforderungen, aber auch das, was den Menschen Hoffnung gibt.

Das vergangene Corona-Jahr war für die äthiopische Bevölkerung ein schwieriges. Worin lagen und liegen die Herausforderungen und wo unsere Lösungsansätze?

Michael Zündel: Die Herausforderungen liegen einerseits in den so gut wie nicht vorhandenen medizinischen Infrastruktur - für den normalen Bürger in Äthiopien gibt es so gut wie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, geschweige denn Notbetten oder Sauerstoffversorgung im Falle heftiger Symptome - vor allem aber die sozialen Folgen der Pandemie und der anfänglich verhängten Lockdowns haben die Menschen in Armut und Hunger getrieben: Hunderttausende Taglöhner*innen haben von heute auf morgen ihren Job und damit ihr Einkommen verloren, eine Vielzahl von Menschen, die darauf angewiesen sind, von dem zu leben, was der tägliche Erlös von Waren (zB Zwiebel, Gewürze, Tomaten oder Kartoffeln) auf dem Markt ausmacht, hatten aufgrund der geschlossenen Märkte Totalausfälle. Und hier gibt es keine Sonder- und Ausgleichszahlungen wie bei uns in Österreich, um die Menschen aufzufangen und ein soziales Sicherungsnetz aufzubauen.

 

Das Bild von Entwicklungszusammenarbeit hat sich in der Vergangenheit stark gewandelt. Nach welchen Grundsätzen handelt die Caritas Auslandshilfe?

 

Michael Zündel: Caritas heißt ja bekanntermaßen „Nächstenliebe“. Demzufolge ist es unser Grundsatz, Menschen, die unsere Solidarität und unsere Unterstützung benötigen, zu helfen, wobei wir darauf achten, dass unsere Hilfe nachhaltig und darauf ausgerichtet ist, dass die Menschen dadurch möglichst kompetent darin werden, sich langfristig selbst und eigenständig in ihren Lebenssituationen zurecht zu finden. Als Beispiel dazu sei erwähnt: Taglöhner*innen, die auf Grund der derzeitigen Situation ihre Arbeit und ihr Einkommen verloren haben, erhalten Schulungen und den Zugang zu Kleinkrediten, um sich eine neue Existenz aufbauen zu können (Hühner- oder Ziegenzucht, Marktstand zum Verkauf von Waren wie Gewürzen, Kaffee, Früchten, Gemüse…., Kauf einer Nähmaschine, um Kleider nähen zu können…) – Starthilfe auf dem Weg zur eigenständigen Lebensbewältigung ist ein wesentlicher Grundsatz unseres Verständnisses von Entwicklungszusammenarbeit.

Einen speziellen Fokus legt die Caritas Auslandshilfe dabei darauf, Kindern Chancen zu eröffnen …wie?

Michael Zündel: Wir haben in unseren Projekten und Programmen, die wir mit unseren Partnerorganisationen in Äthiopien umsetzen, über 45.000 Kinder und Jugendliche, die als direkt Begünstigte vor allem in unseren Bildungs- und Schulprojekten gefördert und begleitet werden. Ananas Girmai, die Leiterin des Straßenkinderprojektes PROCS in Addis Abeba, das wir als Caritas unterstützen, formuliert es so: „Bildung ist wohl die wichtigste Waffe, um Armut zu besiegen!“ Dem kann ich nur beipflichten. Denn die Chancen auf eine Ausbildung, auf Schutz vor leidvollen Traditionen wie Beschneidung und früher Verheiratung, auf sukzessive Gleichstellung von Mädchen und Frauen in der Gesellschaft, auf eine eigenständige Lebensbewältigung und die Ermöglichung, seine Familie einmal selbst ernähren zu können, überhaupt der Armutsspirale zu entkommen, kann langfristig nur durch den Zugang zu Schule und Bildung erreicht werden. Darüber hinaus setzen wir mit der verstärkten medizinischen Versorgung für Kinder und Mütter, bereits von der Geburt an, einen weiteren Schwerpunkt. Richtige Ernährung und Zugang der Mütter und Kinder zu medizinischer Versorgung sind eine wichtige Voraussetzung für ein gesundes Heranwachsen der Kinder. Chronische Unter- und Mangelernährung im Kindesalter prägt den physischen und psychischen Zustand eines Menschen ein Leben lang.

Thema Schulausspeisung – warum sind diese ein wirksames Mittel im Kampf gegen Hunger und für Bildung?

Michael Zündel: Die Ernährungssituation der Menschen in vielen Regionen Äthiopiens hat sich dramatisch verschlechtert. Neben den durch die Pandemie verursachten Folgen führen auch die enorme Inflation und die explosionsartige Verteuerung der Lebensmittelpreise dazu, dass immer mehr Schüler*innen und Schüler nicht nur mit leerem Magen zum Unterricht kommen, sondern auch tagsüber nichts zu essen haben. Ohne Essen und Energie können die Kinder nicht lernen. Selbst in Highschools in der Hauptstadt Addis Abeba ist es inzwischen bereits Fakt, dass ein erheblicher Anteil der Kinder auf Ausspeisungsprogramme der Schulen angewiesen ist. Derzeit versorgen wir über unsere Partnerstrukturen mehr als 2.200 Kinder durch die Bereitstellung von Mahlzeiten. Vor allem für Mädchen, sind Ausspeisungsprogramme in der Schule überhaupt erst der Schlüssel dafür, dass sie von den Eltern zur Schule geschickt werden und dass sie ihr Recht auf Bildung wahrnehmen können.

In den SDG – den nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinigten Staaten – ist formuliert: „Wir sind entschlossen, Armut und Hunger in allen ihren Formen und Dimensionen ein Ende zu setzen und sicherzustellen, dass alle Menschen ihr Potenzial in Würde und Gleichheit und in einer gesunden Umwelt voll entfalten können.“ Wie kann jede/jeder von uns die Hand reichen?

Michael Zündel: Nahrung ist ein menschliches Grundrecht. Wir alle haben die Verantwortung dafür, dass alle Menschen in unseren Schwerpunktländern dieses Recht auch erhalten. In Krisensituationen muss diese Nahrungsversorgung sofort und unmittelbar erfolgen, um den Hungertod der Menschen zu verhindern. Langfristig muss die Hilfe aber so angelegt sein, dass die Menschen bessere Anbaumethoden und damit bessere Ernten sichern können, um sich selbstständig ausreichend ernähren zu können. Innovative landwirtschaftliche Programme und der bereits erwähnte intensive Focus auf Schule und Ausbildung der Kinder sind hier richtungsweisend für unsere Arbeit. Gleichzeit müssen wir das Bewusstsein für rasche Maßnahmen zum Klimaschutz schärfen. Die Folge der sich häufenden Dürren, Überschwemmungen und Naturkatastrophen ist zu einem erheblichen Teil auf den Raubbau an der Natur vor allem der letzten Jahrzehnte zurückzuführen. Hier muss sich jede und jeder von uns auch selbst an der Nase nehmen.

Also ist Hunger zu besiegen letztlich keine Frage des Könnens sondern des gemeinsamen Wollens?

Eine Frage des Könnens ist es meiner Meinung nach definitiv nicht. Dies zeigen für mich die enormen Geldbeträge, die zur Bewältigung der Covid-19-Krise kurzfristig zur Verfügung gestellt wurden. Ich will das nicht kritisieren und befürworte dies durchaus. Was ich kritisiere ist die Tatsache, dass mehr als 8000 Kinder, die täglich weltweit an Hunger sterben, nicht einmal einen Bruchteil dieser Gelder benötigen würden, um ihr Überleben zu sichern. Es ist ein Armutszeichen unserer Gesellschaft und für unsere Solidarität, dass das tägliche Verhungern Tausender Kinder „relativ salopp“ und tatenlos zur Kenntnis genommen wird! Hier wäre sehr viel mehr nötig und auch möglich! Allein die Kosten von weniger als drei Monaten für die weltweiten Rüstungsausgaben könnten rechnerisch den gesamten Hunger in der Welt bekämpfen!

Zur Person:

Michael Zündel, 58 Jahre, verheiratet, 1 Tochter

Aufgewachsen in der Gemeinde Bildstein, seit 35 Jahren wohnhaft in Götzis

Diplompädagoge (23 Jahre Lehrtätigkeit an der Mittelschule Bregenz Rieden und an der Sekundar- und Realschule Eschenbach (Kanton St. Gallen), langjährige journalistische Tätigkeit, vor 25 Jahren Einstieg als ehrenamtlicher Mitarbeiter in verschiedenen Projekten der Caritas Auslandshilfe in Rumänien, Albanien und Äthiopien, seit 14 Jahren hauptamtlicher Mitarbeiter der Caritas Auslandshilfe und verantwortlich für die Kinder- und Bildungsprojekte der AH in den Schwerpunktländern Äthiopien, Mosambik, Ecuador und Armenien

Lebensmotto: „Gemeinsam etwas bewegen als Lebensziel“

 

Caritas-Hungerhilfe 2021

Raiffeisenbank Feldkirch, IBAN AT 32 3742 2000 0004 0006

Kennwort: Hungerhilfe 2021, Online-Spenden: www.caritas-vorarlberg.at